V. Die Gesellschaft der Satisanzia
Die Eroberung der Senimarga durch Meyapotina entschied zwar zunächst
noch nicht endgültig die Zukunft des Reiches, sorgte jedoch
zuerst einmal für eine Stabilisierung nach innen. Die Hochzeit mit der Nichte des letzten Königs
und die Krönung im folgenden Jahr machten Meyapotina zum
Herrscher über etwa zwei Drittel der Senimarga. Die Thronprätendenten,
die durch Meyapotinas Heer nacheinander geschlagen worden waren,
stellten keine Bedrohung des inneren Friedens dar, entweder weil
sie zu Meyapotina übergelaufen waren, zum anderen weil sich
der größte Teil der Heerführer ebenfalls Meyapotina
angeschlossen hatten. Für einen etwaigen Aufrührer gab
es außer vielleicht den Leuten des eigenen Stammes auch
wenig Aussicht auf Unterstützung durch das einfache Volk.
Die Städte hatten sich ganz auf Meyapotinas Seite
gestellt, als ihre Bewohner gemerkt hatten, daß Meyapotina
sie beschützen konnte und wollte, und ihnen darüber
hinaus die während des Bürgerkriegs angeeigneten Strukturen
der Eigenverwaltung zubilligte. Die Landbevölkerung auf der
anderen Seit hatte wegen des zehnjährigen Bürgerkriegs
soviel aufzuholen, daß die Aussicht auf Frieden allein genügte,
jede Versuchung der Rebellion im Keime zu ersticken. Einzig die
Landbesitzer, die vom Gasatraya-System profitierten, hätten einige
Aussichten auf Erfolg gehabt, aber die Bedrohung durch die Südfürsten
und die Nähe zum Stammesgebiet der Satisante genügten,
um ihre Kooperation zu gewährleisten. Darüber hinaus
erkannte Meyapotina, daß er dieses System nicht ohne weiteres
hätte aufheben können. Wahrscheinlich wollte er es auch
gar nicht, da sein Wohlwollen gegenüber den Pote ihre
Unterstützung seiner Herrschaft gewährte.
Kulturell hatte die Eroberung der Senimarga durch die Satisante
auf die im Zuge des Bürgerkriegs enstandene Gesellschaft
wenig Einfluß. Zwar hatten sich einige Adlige der Satisante
während der Eroberung des Reiches Land angeeignet, doch die
Mehrzahl des Stammes blieb im alten Siedlungsgebiet, das sich
jedoch einige Meilen auf Kosten der alten Bevölkerung nach
Westen erweiterte. Da beide Seiten durch den Krieg Verluste an
Menschen hatten hinnehmen müssen, gab es durch die Neuankömmlinge
auch keine Bevölkerungsexplosion.
Das Herrschaftssystem der Senimarga änderte sich auch durch
die Eroberung zunächst nicht grundlegend. Zwar zog Meyapotina
seine Sarannu mit hinzu, um den Frieden im Landesinneren aufrecht
zu erhalten und eine Zunahme des Verbrechens zu unterbinden, doch
sonst behielt er zunächst die alten Strukturen bei. Zwar
schraubte er den Einfluß des Henêta zurück,
versuchte jedoch auch nicht ohne dieses Gremium zu regieren. Somit
konnte man sich die nächsten fünf Jahre über um
den Wiederaufbau des Reiches kümmern.
Im fünften Jahr nach
seiner Krönung entschloß sich Meyapotina, die Frage
des südlichen Teils der Senimarga zu entscheiden. Inwieweit
er schon Pläne für die endgültige Ausgestaltung
des Reiches im Kopf hatte, ist unbekannt. Er zog mit einem Heer
der besten Sarannu der Satisante nach Salbar. Anlaß dafür
waren Grenzstreitigkeiten des Fürsten von Salbar mit seinen
südlichen Nachbarn. Fürst Belavargi, der schon im Jahr
der Eroberung Viargakas ein Bündnis mit Meyapotina geschlossen
hatte, bat diesen um Unterstützung. Gemeinsam schlugen sie
ein Heer, daß drei der acht Südfürsten gemeinsam
aufgestellt hatten.
Anschließend bat Belavargi um Wiederaufnahme seines Stammes
in das Reich. Als einzige Auflage an die Südfürsten
verlangte Meyapotina, daß diese sich mit ihm zu einer Beratung
in Hakrivarg trafen. Dort verhandelten die beiden Parteien vornehmlich
auf gleicher Augenhöhe. Der Herrscher der Senimarga bestand
dabei noch nicht einmal auf seiner Stellung als Nachfolger des
angestammten Herrscherhauses.
Dennoch liefen die Verhandlungen zunächst schleppend an,
weil die Südfürsten auf ihrer Stellung als unabhängige
Herrscher bestanden. Wahrscheinlich entwickelte Meyapotina seine
Idee der Reichsverfassung erst während dieser Verhandlungen,
die im Sommer des nächsten Jahres fortgesetzt wurden; vielleicht
arbeitete er sein Konzept auch erst während der Winter -
und Frühlingsmonate aus. Die Quellen schweigen sich darüber
aus, also dürfte Meyapotina seine Vorstellungen allein, vielleicht
auch in Zusammenarbeit mit seinen wichtigsten Beratern nach und
nach entwickelt haben.
Der Vertrag von Hakrivarg, der im siebten Jahr der Herrschaft
Meyapotinas die Aufnahme der meisten Südfürsten ins
Reich besiegelte, wurde zum Gründungsdokument eines neuen
Staates. Zwar wurde die Reichsreform in den kommenden Jahren weiter
ausgearbeitet, doch mit der Gewährung des Titels Loinna nicht
nur an die Südfürsten, sondern an alle Stammesfürsten,
hatte sich aus den Resten der Senimarga das Reich der Satisanzia
erhoben. Der Umstand, daß der Parsha des Reiches kein absoluter
Herrscher war, sondern eher Primus inter Pares dürfte den
Südfürsten die Zustimmung nicht unbedeutend versüßt
haben. Aber auch für die Struktur des Reiches und für
die Stämme allgemein bedeutete diese Konstellation eine weitgehende
kulturelle und rechtliche Eigenständigkeit. Die Einrichtung
des Reichsrates, bei dem alle Teile - auch der militärische
Arm - vertreten waren, garantierte zwar noch nicht den inneren
Frieden, sorgte aber dafür, daß auch ein schwacher
Parsha nicht unmittelbar den Untergang des Reiches und der Herrschaft
bedeutete. Zudem wurde mit der Kanzlei eine zentrale Verwaltungsinstanz geschaffen,
die für Kontinuität sorgte und einen weiteren Rückhalt
gegenüber Stammesstreitigkeiten verlieh.
Die wichtige Frage der Herrschaftskontinuität, welche die
Senimarga hatte untergehen lassen, wurde derart geregelt, daß
der Parsha als Loinna der Satisante für einen Nachfolger
als Loinna sorgte und dieser dann im Todesfall des Parsha dessen
Nachfolger wurde. Bei unentschiedener Thronfolge bei den Satisante
sollte der Reichsrat als Beratungsgremium der Satisanzia fungieren,
bis ein neuer Parsha (als Loinna der Satisante) gekürt würde.
Sollte bei den Satisante keine Entscheidung der Herrschaftsnachfolge
stattfinden, mußte der Reichsrat einen seiner Mitglieder zum Parsha
küren. Allerdings galten einzig die Loinnu als möglicher
Nachfolger.
Der größte gesellschaftliche
Wandel, der sich in der Folgezeit ereignete, hatte bereits mit
dem Bürgerkrieg während der Herrschaftszeit von Salus
I. eingesetzt: die Selbstverwaltung der Städte. Hier hatten sich
die Gilden und Zünfte zu Ratsversammlungen zusammengetan,
in denen die mächtigen Händler und Handwerker die Verwaltung
der Städte regelten. War es zunächst einmal um den Aufbau
einer eigenen Miliz gegangen, welche die Kriegsgefahr von außen
abwehren sollte, so hatte sich mit der Notwendigkeit, auch der
weiteren Gefahren des Krieges wie Feuersbrünsten oder Problemen
bei der Nahrungsversorgung Herr zu werden, auch die weitere Verwaltung
der Städte entwickelt. Hierbei ging es darum die Frage zu
klären, wer in bestimmten Notfällen für die Behebung
der Probleme wie etwa die Reparatur von zerstörten Häusern
oder öffentlichen Gebäuden zuständig war und wie
sein Arbeitseinsatz vergütet werden sollte etc. Wenn die
Ratsversammlungen darüber hinaus auch für die Vertretung
der Städte nach außen hin zuständig sein sollten,
mußten weitergehende Fragen wie die Aufgabenverteilung,
die Ermächtigung einzelner für bestimmte Aufgaben, und
ferner die Wahl der Ratsvertreter geregelt werden. Zwar hatte
es auch vorher schon Gesetze für solche Fälle gegeben,
aber in der Frühzeit waren meist noch Stammesfürsten
oder deren Vertreter die letztlich entscheidende Gewalt gewesen.
Mit der Entstehung der Satisanzia mußten die Städte
und die Ratsversammlungen auf irgendeine Weise in die Struktur
des Reiches eingebaut werden. Die Städte hatten Meyapotina
treu unterstützt; ihnen die Eigenständigkeit wieder
zu nehmen hätte große Unruhe in das junge Reich gebracht.
Da die Stammesfürsten ja zumindest nominell immer noch Herrscher
über die Stadtbewohner waren, drohte ein Konflikt zwischen
den Loinnu und den Städten. Meyapotina besaß die Weitsicht,
sich das wirtschaftliche Potential der Städte zu erschließen,
indem er den Ratsversammlungen in seinem direkten Herrschaftsbereich
(also dem eigentlichen Stammesgebiet der Satisante sowie dem durch
die Heirat mit Rasokapas Nichte unter seine Herrschaft gelangten
Gebiet der Erdulînu) zwar einen von ihm bestallten Verwalter
(Imbèvartta, Abgesandter) voranstellte, ihnen aber
großteils die eigene Verwaltung ließ. Der Verwalter
war vor allem für die Erhebung der Steuern, sowie die Kontrolle
der Einhaltung der Gesetze zuständig, während die Ratsversammlungen
(Mentara) für die politischen Aufgaben der Stadt relativ
freie Hand hatten. Meyapotinas Beispiel wurde daraufhin in den
meisten Gebieten des Reiches gefolgt.
Neben dem Aufbau der Verwaltung kümmerten sich die Mentaru
auch um den Aufschwung des Handels, der die politische Macht der
Städte stärken und das nötige Geld für den
inneren Aufbau beschaffen sollte. Nach dem zehnjährigen Bürgerkrieg
hatten die Menschen einiges aufzuholen. Hier ist es vielleicht
angebracht, einmal einen kurzen Überblick über die Wirtschaft
von Satisanzia zu geben. Generell war die Gesellschaft der Satisanzia
weitgehend agrarisch angelegt, wobei die Viehzucht den Schwerpunkt
bildete. Diese Wirtschaftsform hatte ihr Zentrum im Mittelland,
dem Gebiet zwischen dem Egarsa, dem Meer und dem Ahipassni. Der
Fischfang an der Küste fiel zu dieser Zeit noch wenig ins
Gewicht. Neben der Viehzucht war auch der Ackerbau in den Mittellanden
von Bedeutung; dieser herrschte vor allem in dem Verbreitungsgebiet
des Gasatraya-Systems vor. Desweiteren betrieben auch die Erdulînu
Ackerbau in größerem Rahmen, während die Satisante
der Viehzucht den Vorrang gaben. Die Jagd war wie in jeder Kriegergesellschaft
vor allem dem Adel vorbehalten.
Das Gebiet des Egarsa trat vor allem durch seine Metallbergwerke
und die weiterverarbeitenden Schmiede hervor. Daneben wurde hier
- wie auch im Ahipassni - viel Schafzucht betrieben. Im Ahipassni
sowie an den Küstengegenden des Südmeers wurde Wein
angebaut. Im Ahipassni gab es ferner auch eine bedeutende Töpferindustrie,
sowie die Verarbeitung von Korkprodukten wegen der ausgedehnten
Korkeichenwälder im Süden. An der Küste wurden
weiterhin Olivenbäume und Zitrusfrüchte angebaut. Von
den Südausläufern des Egarsa bis zum Nordrand des Ahipassni
gab es ausgedehnte Wälder, die zur Zeit Meyapotinas allerdings
schon stark reduziert waren. Diese bildeten den Grundstock für
die Bauwirtschaft.
Nachdem der Parsha sich
in der Schlacht
von Halisagreya auch
die beiden letzten unabhängigen Stämme des alten Reiches
angeeignet hatte, erhob er seine Söhne Viya und Tiarnala
zu Stammesfürsten der beiden Stämme, deren alte Fürsten
in der Schlacht gefallen waren. Dieser Schritt stellte zwar einen
Verstoß gegen die Prinzipien dar, welche Meyapotina für
Satisanzia eingeführt hatte, doch schien dies niemanden zu
stören. In den Quellen der Kanzlei ist jedenfalls kein Protest
gegen diese Maßnahme verzeichnet. Warum sich Meyapotina
zu diesem Schritt entschied, ist nicht bekannt. Aber zum einen
stellte dies eine Verbreiterung der Machtbasis des Herrscherhauses
dar, zum anderen verfügten Meyapotinas Söhne damit über
eine eigene Machtbasis. Nach dem Tod Meyapotinas, als Viya zum
Nachfolger des Vaters wurde, übernahm der Sohn die Würde
des Loinna der Satisante. Da Viya wiederum zwei Söhne hatte,
war auch der jüngere Sohn versorgt, während sein Ältester
als Viya III. im Jahre 76 n.M. den Thron bestieg. Die annektierten
Stämme waren aber eher klein. Die Mêrinka (deren
Loinna Tiarnala wurde) lebten, wie der Name sagt, am Meer und
zwar südlich von Halisagreya. Die Gamêratte
dagegen lebten weiter südöstlich von Halisagrêya
am Rand des Reiches und waren Ackerbauern.
In der zweiten Hälfte von Meyapotinas Herrschaftszeit deutete
sich außerdem die nächste wichtige Entwicklung an:
der beginnende Konflikt mit den eigentlichen Fergiartu. Zunächst
handelte es sich nur um einen sehr begrenzten Konflikt und niemand
hätte sich vorstellen können, daß daraus einmal
ein wichtiger Teil der Identität des fergiartischen Volkes
ergeben würde. Zunächst gab es vereinzelte Räubereien
und Überfälle, Vieh wurde gestohlen und Handelskarawanen
ihrer Ware beraubt. Später kam es zu einzelnen Scharmützeln
zwischen Banditen oder fergiartischen Trupps, als der militärische
Arm des ansässigen Stammes (der Divasûni) für
die Sicherheit des eigenen Territoriums intervenierte. Erst ab
dem Jahr 12 n.M. begann sich der Konflikt auszuweiten, da Fürst
Vargeva bis in den Egarsa vordrang. Davon waren allerdings kleinere
ansässige Stämme und Dörfer eher betroffen als
Satisanzia selbst. Das Reich selbst jedenfalls war eher mit der
Eroberung der beiden letzten Stammesgebiete der Senimarga und
später der Nachfolge Meyapotinas beschäftigt, als daß
es dem Vordringen der Fergiartu größere Aufmerksamkeit
schenkte.
(To be continued...)